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Fotos: Christian Brachwitz

Großes Theater war am gestrigen Sonnabendabend in Neustrelitz zu erleben. Auf der Landesbühne hatte Thomas Vinterbergs Schauspiel „Das Fest“ in der Inszenierung von Andreas Nathusius Premiere. Will man dazu eine Rezension schreiben, gilt es zuallererst zu beantworten, ob die Aufführung unter die Haut gegangen ist. Aber ja! Um nichts Schlimmeres als Kindesmissbrauch geht es, da sollte es selbstverständlich sein, und doch ist es den Neustrelitzer Theatermachern gelungen, sich geradezu ihres Publikums zu bemächtigen. Es dankte ihnen mit minutenlangem Applaus und Bravorufen, die wie eine Befreiung waren nach einer Stunde und 45 Minuten atemloser Spannung.

In eine Pause werden die Zuschauer wohl bewusst nicht entlassen, sie hingen aber auch geradezu an den Lippen der Mimen, und war es mal still auf der Bühne, hätte man vor geballter Erwartung im Saal die berühmte Stecknadel fallen hören. Das karge Bühnenbild – eine Festtafel, ein Klavier und viele weiße Vorhänge – fokussierte auf jeden Satz, und zwischen den Szenen hielten grelles Licht und zur Unerträglichkeit verzerrte Basstöne die Spannung oben und brachten die Theatergänger an den Rand einer kollektiven Migräne.

Michael Goralczyk (Christian), Momo Böhnke (Michael, rechts)

Michael Goralczyk als Missbrauchsopfer Christian und Frank Metzger als Vergewaltiger und Vater Helge ragen aus der starken Ensembleleistung heraus. Ein Segen, dass unser Theater solche Schauspieler aufbieten kann! „Wir haben nie verstanden, warum du das mit uns gemacht hast“, sagt Christian auch im Namen seiner Zwillingsschwester, die sich umgebracht hat. Und Helge antwortet: „Ihr ward nicht mehr wert.“ Da hatte die Fassungslosigkeit auf der Reise durch die Abgründe einer Familie ihren Höhepunkt erreicht, und mein Sitznachbar vergewisserte sich noch einmal, ob er sich auch nicht verhört habe. Aber auch Angelika Hofstetter als Mutter Else, die bei den Schandtaten ihres Mannes bewusst weggeschaut hat und ihn fast bis zuletzt verteidigt, Anika Kleinke als weitere Tochter Helene und Momo Böhnke als Sohn Michael mit Josefin Ristau als Ehefrau Mette, Steven Nowacki, Dirk Schmidt, Martina Block, Sven Jenkel, Marie Förster, Benjamin Muth, Thomas Pötzsch, Lothar Missuweit und Carl August Zabel als Kind von Mette und Michael wurden zurecht von den Zuschauern gefeiert.

Thomas Pötzsch (Toastmaster), Angelika Hofstetter (Else), Frank Metzger (Helge), Momo Böhnke (Michael), Josefin Ristau (Mette), Dirk Schmidt (Opa, von links).

Aus dem Programmheft: „Kann man heutzutage überhaupt noch von ‚Familie‘ sprechen, und was bedeutet sie noch für den Einzelnen? Wenn wir miterleben, wie viele Familien kaputt gehen, stellt sich die Frage: Hat Familie überhaupt Zukunft? Oder vielleicht anders herum gefragt: Ist Familie denn überhaupt noch so wichtig?“ Die Antwort muss jeder für sich allein finden.

Mein Fazit: „Das Fest“ am Landestheater Neustrelitz ist wahrlich schwere Kost. Die Inszenierung ist aber unbedingt ansehenswert, wirkt nach und übertrifft für mich den gleichnamigen Film Vinterbergs von 1998. Nächste Vorstellungen: 22. Februar, 6. und 28. März, jeweils 19.30 Uhr.

Übrigens wird den Zuschauern wie ein Appell für mehr Aufmerksamkeit an uns alle mit der Notrufnummer 0800 2255530 der Hinweis auf den Weg gegeben, dass die meisten missbrauchten Kinder ihr Martyrium in der Familie und im sozialen Umfeld erleben.

www.anrufen-hilft.de